In Bildern von enormer Eindringlichkeit schildert Serhij Zhadan, wie sich die vertraute Umgebung in ein unheimliches Territorium verwandelt. Mindestens so eindrucksvoll ist seine Kunst, von trotzigen Menschen zu erzählen, die der Angst und Zerstörung ihre Selbstbehauptung und ihr Verantwortungsgefühl entgegensetzen. Seine Auseinandersetzung mit dem Krieg im Donbass findet mit seinem Roman Internat ihren vorläufigen Höhepunkt. Ein junger Lehrer will seinen 13-jährigen Neffen aus dem Internat am anderen Ende der Stadt nach Hause holen. Die Schule, in der seine berufstätige Schwester ihren Sohn "geparkt" hat, ist unter Beschuss geraten und bietet keine Sicherheit mehr. Durch den Ort zu kommen, in dem das zivile Leben zusammengebrochen ist, dauert einen ganzen Tag.Der Heimweg wird zur Prüfung. Die beiden geraten in die unmittelbare Nähe der Kampfhandlungen, ohne mehr sehen zu können als den milchigen Nebel, in dem gelbe Feuer blitzen. Maschinengewehre rattern, Minen explodieren, öfter als am Tag zuvor. Paramilitärische Trupps, herrenlose Hunde tauchen in den Trümmern auf, apathische Menschen stolpern orientierungslos durch eine apokalyptische urbane Landschaft.-
Pascha will seinen Neffen aus dessen Internat nach Hause holen. Zu unsicher ist die Situation geworden, der Junge soll Zuhause bei seiner Familie sein. Weit hat Pascha es nicht, das Internat liegt in der nächsten größeren Stadt, unweit seines Dorfes. Aber als er losfährt, merkt er schnell, dass sich das Kampfgeschehen verlagert hat, die Situation viel brenzliger ist, als er ahnte. Mitten durch die Front geht seine Reise und der Rückweg mit dem Jungen wird zu einer Odyssee, die mehrere Tage dauern und beide in Gefahr bringen wird.
Bevor ich mir „Internat“ angehört habe, war mir der Name Serhij Zhadan unbekannt. Dabei sind schon mehrere seiner Romane, von denen einige mit diversen Preisen ausgezeichnet wurden, ins Deutsche übersetzt worden. Aber er ist nicht nur als Autor bekannt, sondern auch für seinen politischen und humanitären Einsatz in der und für die Ukraine. Wohl in Verbindung dieser beiden Tatsachen erhielt er erst vor wenigen Tagen den Friedenspreis des deutschen Buchhandels.
Zhadan, der selbst in Starobilk in Luhansk geboren und in Charkiw aufgewachsen ist, geht auffallend sparsam mit der Nennung von Orten, Namen und Nationalitäten um. So ist fast immer nur die Rede von „unsere“ und „die anderen“, wobei vage bleibt, wer jetzt wer ist und wer zu wem gehört. Oder auch nicht. Dadurch entsteht eine Unklarheit, die mich auf der einen Seite verwirrt hat und etwas verloren zurückließ, auf der anderen Seite wurde es aber gerade dadurch möglich, besser zu begreifen, welchem Chaos die Zivilisten in einem Krieg ausgeliefert sind. Wie nicht nur die ganze eigene Welt aus den Fugen gerät, sondern man nicht mal mehr weiß, mit wem man über was sprechen darf, was offenbaren, wem vertrauen. Sprache wird zu einer Methode der Verschleierung, zu einer potenziellen Gefahrenquelle, zum Ausdruck eines Abstandes. So antwortet auch Pascha auf die Frage, was er als Lehrer unterrichten würde, immer nur mit „die Sprache“. Obwohl allen klar ist, welche Sprache damit gemeint ist, wird sie nicht genannt.
Auf der Gefühlsebene hat mich der Roman ein wenig an einen düsteren Roadmovie erinnert. Für mich haben sich die verschiedenen Orte, an denen Pascha und sein Neffe stranden, irgendwann angefangen zu überlagern. Wenn ich jetzt zurückdenke, habe ich eher ein großes Durcheinander und nur wenige individuelle Szenen vor Augen. Vielleicht ist genau das etwas, was dieses Buch ausmacht, die Wirren des Krieges nicht nur zu erzählen, sondern spürbar zu machen, aber mich hat es ein wenig unbefriedigt zurückgelassen.
Viel zu selten erwähnt, aber in diesem Fall unumgänglich sind die beiden Übersetzer Juri Durkot und Sabine Stöhr, die gemeinsam das Romanwerk von Zhadan übersetzt haben und für ihre Leistungen gleich mehrere Preise erhielten, unter anderem für die Übertragung von „Internat“ ins Deutsche den Preis der Leipziger Buchmesse.
Die Hörbuchversion wird gelesen von Frank Arnold. Er hat mich mit seiner angenehmen Stimme und passenden Modulation auch durch die Passagen getragen, die für mich zu unüberschaubar und damit weniger interessant wurden.
Alles in allem fällt es mir schwer, eine Rezension zu verfassen, die meinen Gefühlen für dieses Hörbuch gerecht werden. Etwas Konkretes, greifbares hat sich bei mir nicht rauskristallisiert. „Internat“ ist für mich ein weiteres neues Puzzleteil des Rätsels „Ukraine“. Eins, von dem ich noch nicht weiß, wo es hingehört, aber immerhin ein neues.
Dem Krieg in der Ukraine über die Schultern schauen
Bewertung aus Saas-Fee am 19.03.2022
Bewertet: Buch (Gebundene Ausgabe)
Bilder von einem zerrissenen Land, die sich eingravieren und bleiben, gerade auch, weil im Hintergrund des Lesens der furchtbare Krieg in der Ukraine seit gut drei Wochen mit erbitterten Kämpfen am Wüten ist.
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