Eine Liebeserklärung an ein aussterbendes Milieu, dessen Kinder vom großen Los träumten, aber auch mit den Trostpreisen zufrieden sind.
Manchmal lassen die Eltern die heißen Fabrikhallen hinter sich und fahren los. Mit den Kindern ans Meer, immer an die Nordsee und immer nur für ein paar Tage. Der Rest ist Plackerei: Für das Reihenhaus, für die Kinder, für ein bisschen Glück – wenigstens im Rahmen des Sparkassendarlehens. Martin Becker erzählt in „Die Arbeiter“ von einer kleinstädtischen Familie, die es nicht mehr gibt. Von zu früh gestorbenen Eltern und Geschwistern, von einem unverhofften Wiedersehen an der Küste, vom kleinen Wunder, nach dem Verschwinden der Ursprungsfamilie nun selbst Vater zu sein und einen Sohn zu haben. Die altmodischen Nähmaschinen der Mutter, der schwere Schmiedehammer des Vaters, die billig eingerichteten Ferienwohnungen und stets zugequalmten Kleinwagen aus dritter, vierter, fünfter Hand: es ist die Geschichte über eine Herkunft aus einfachen Verhältnissen, fern aller Romantik und Verklärung. Ein Denkmal für die verschwundene Arbeiterfamilie. Eine Liebeserklärung an ein aussterbendes Milieu, dessen Kinder vom großen Los träumten, aber auch mit den Trostpreisen zufrieden sind. Aktueller denn je.
Diesen autofiktionalen Roman habe ich tieftraurig empfunden. Die Eltern des Autors zählten noch zu jener Gruppe von Menschen, die es heute so eher nur mehr selten gibt: richtige Arbeiter*innen.
Sie üben körperlich anstrengende Berufe aus, und das für eine geringe Bezahlung. Trotzdem gönnen sie sich ein paar Tage Urlaub an der Nordsee. Fahren dorthin mit ihrem alten, gebrauchten Auto. Natürlich wohnen sie nicht direkt am Strand – zu teuer, einen Fußmarsch müssen sie zurücklegen, um ans Meer zu kommen. „Schön haben wirs“, versichern sich die Eltern selbst, nicht nur nach dem Urlaub, immer wieder empfinden sie das wenige hart Erarbeitete als kleines Glück. Ein Reihenhaus haben sich die Eltern gekauft, weil sie was Eigenes besitzen wollten – noch nach ihrem Tod war der Kredit aber nicht abbezahlt.
Der Vater trinkt gern seine Bierchen und Schnäpse, vom Charakter ist er ein eher wortkarger, wütender Mensch. Die Mutter, sitzt daheim hinter der Nähmaschine, sie macht für den Quelle-Versand die Änderungsschneidereien.
Aber es wird auch von einer Liebe in der Familie geschrieben, die beim Lesen zu Herzen geht. Hier wird nicht umarmt oder geküsst. Liebe drückt sich in der Familie anders aus. Martin Becker erzählt vom Qualm der Zigaretten im Auto, wie der Vater dennoch der Mutter die Zigaretten anzündet und sie ihr hinhält. Vom Vater, der sich um seine Frau selbst kümmern möchte, und sie nicht den Ärzten und Krankenschwestern überlassen will. Und dann doch total überfordert ist.
Die Mutter wird ohne alt geworden zu sein krank und erholt sich nie mehr, auch der Vater verstirbt viel zu früh – aber beide passen genau in den Referenzbereich der Statistik, der angibt, das Arbeiter*innen so mit 65 Jahren sterben.
Martin Becker hat zum Teil gelitten unter seiner Herkunft, unter dem oft wütenden Vater und unter seiner Adoptivschwester, die im Rollstuhl sitzt. Geniert hat er sich für sie und wollte, wenn er mit der Mutter durch die Straßen der Kleinstadt ging, so tun als gehöre sie nicht dazu. Martin Becker wollte der Tristesse einfach entkommen.
Ich habe den Roman deswegen so traurig gefunden, weil der Vater hart arbeitet, um seiner Familie ein bisschen was zu bieten, ein paar Tage Urlaub, einen Fernseher, ein eigenes Haus, obwohl nie genug Geld da war. Und am Ende sterben die Eltern viel zu früh und konnten nicht mal ordentlich die Pension genießen. Der Roman vermittelt eine eigene Stimmung, wie ich sie selbst kenne aus meiner Zeit des Aufwachsens in den 1980er Jahren. Ich konnte so viele Parallelen zu jener Zeit identifizieren, vermutlich ist das der Grund, warum ich von diesem Roman so begeistert bin.
Es geht um Martin, ein Kinder der Arbeiterklasse in Plettenberg, geboren in den 80er Jahren. Und ja, richtig gesehen der Autor heißt auch Martin und ist geboren in Plettenberg. Wie der Autor so schön formulierte: Viel Autobiographisches, nicht alles stimmt.
Martin Becker nimmt sein Aufwachsen als Blaupause für diesen Roman und taucht in Erinnerungen ab und macht sie uns zugänglich. Erläutert, wie (s)eine Familie mit wenig Mitteln sich ihrem Schicksal fügt und das beste rausholt. Für die Kinder, für das Reihenhaus. Schuften um ab und an die Beine hochlegen zu können. Am Nordseestrand.
Ein zeithistorisches Portrait einer ganzen Familie mit ihren Umgangsformen und wie sie das Leben meistern. Mal gut, mal schlecht. Wie trotz aller Limitationen ein Heimatgefühl in diesem Ort, Plettenberg, in den Menschen so tief verankert ist, dass sie sich wohl fühlen mit dem wie es ist und was sie haben.
Mich hat die nicht-lineare Erzählweise leicht aus dem Takt gebracht und eine seiner Schwestern, bei der ich den Faden verlor…wer den Roman kennt, weiß worauf ich anspiele. Ansonsten tonal literarisch gut geschrieben.
Es ist im Grunde ein Roman über die Arbeiterklasse ab den 80er Jahren in Deutschland. Eine Klasse, die durch die strukturellen Veränderungen so nicht mehr den breiten Bestand hat, aber natürlich noch vorhanden ist.
Ein spannender Einblick!
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