»Das ist also das Leben meiner Mutter gewesen, dachte ich, das Leben und das Alter einer Arbeiterin. Noch wusste ich nicht, dass ich dieser Aufzählung bald ein drittes Wort würde hinzufügen müssen.«
Eigentlich hatte Didier Eribon sich vorgenommen, ab jetzt regelmäßig nach Fismes zu fahren. Doch seine Mutter stirbt wenige Wochen nach ihrem Umzug in ein Pflegeheim in dem kleinen Ort in der Champagne. Wie in Rückkehr nach Reims wird dieser Einschnitt zum Ausgangspunkt für eine Reise in die Vergangenheit. Eribon rekonstruiert die von Knappheit und Zwängen bestimmte Biografie einer Frau, die an einen brutalen Ehemann gekettet blieb und sich sogar in ihren Träumen bescheiden musste. »Meine Mutter«, hält er fest, »war ihr ganzes Leben lang unglücklich.«
Didier Eribons neues Buch ist hochpolitisch: Er legt schonungslos dar, wie sehr die Politik, aber auch die Philosophie, ja wir alle die skandalöse Situation vieler alter Menschen lange verdrängt haben. Zugleich erweist er sich erneut als großer Erzähler: Anhand suggestiver Episoden und berührender Erinnerungen zeigt er, wie wichtig Familie und Herkunft für unsere Identität sind. Er kauft ein Dialekt-Wörterbuch, um noch einmal die Stimme seiner Mutter im Ohr zu haben. So entfaltet der Soziologe das Porträt einer untergegangenen Welt: des Milieus der französischen Arbeiterklasse – mit ihren Sorgen, ihrer Solidarität, ihren Vorurteilen.
Sandra von Siebenthal aus Romanshorn am 05.06.2024
Bewertungsnummer: 2216532
Bewertet: Buch (Gebundene Ausgabe)
«Unsere Mutter sollte sich heimisch fühlen, denn, wie wir ihr im Laufe des Tages immer wieder sagten, hier wohnte sie jetzt, das war jetzt ihr «Zuhause», wogegen sie resigniert protestierte: «Nein, das wird nie mein Zuhause sein», dann: «Nein, das ist nicht mein Zuhause, bevor sie es leid war, dass wir sie scheinbar nicht verstanden, und sagte: «Jaja, ich weiss, aber es ist nicht dasselbe.»»
Didier Eribon erzählt von seiner Mutter, vordergründig, in Tat und Wahrheit erzählt er mehr von sich und seinem Verhältnis und Verhalten der Mutter gegenüber. Er liefert eine Sozialstudie dessen, was es heisst, alt und damit Minderheit zu sein. Er demonstriert, was es bedeutet, einer unteren Klasse zuzugehören, und welche Probleme damit verbunden sind.
«…mir wurde wieder einmal bewusst, wie befremdlich und nahezu unerträglich das sein kann, was man gemeinhin als «Familienbande» nennt. Was verband uns? Nichts. Rein gar nichts. Ausser der Tatsache, dass wir hier waren, um uns um unsere Mutter zu kümmern, dass wir hier sein mussten.»
Und: er zeigt die Zerwürfnisse und Schwierigkeiten in Familien, vor allem dann, wenn es darum geht, Lösungen zu finden, an denen alle beteiligt sind und die alle in einer Weise betreffen. Neben der persönlichen Ebene dieses Buches gibt es auch die soziale, die politische. Didier Eribon verweist auf die Lage von alten Menschen in unserer Gesellschaft, auf ihr Übergangensein, auf ihre Stellung am Rande der Gesellschaft und dieser quasi nicht mehr zugehörig. Sie haben keine Stimme mehr, Entscheidungen werden oft über ihren Kopf hinweg und für sie getroffen. Es ist, so Eribon, dringend nötig, alten Menschen wieder eine Stimme zu geben, ihnen die Würde zu belassen, die ihnen zusteht.
«Mittlerweile ist mir bewusst, dass ich zugleich dank meiner Mutter und in Abgrenzung zu ihr der Mensch geworden bin, der ich bin. In meinen Gedanken war das In-Abgrenzung-zu-ihr lange Zeit stärker als das Dank-ihr. Natürlich schäme ich mich seit langem für all die Beispiele meines Egoismus und meiner Undankbarkeit.»
Eribon schaut unbarmherzig auf seine Beziehung zu seiner Mutter. Er sieht seine Versäumnisse, sein mangelndes Einfühlungsvermögen und auch die Vernachlässigung der Beziehung. Er war in seinem Weg der Abgrenzung von seiner Herkunft, damit, all das, was dafürstand, abzulehnen, so gefangen, dass ihm der Blick auf die anderen, das Einfühlen in ihre Position und ihren Umgang mit der Situation, verborgen blieb. Nein, all das blieb nicht einfach verborgen, er schaute bewusst weg.
Eribon bleibt aber nicht beim Persönlichen stehen, er zeichnet auch ein Bild der Gesellschaft, wie sie war, vor allem auch für Frauen:
«Als Frau hatte man es schwer, Männer konnten machen, was sie wollen, Frauen nicht.»
Seine Mutter kam aus einer Zeit, in welcher Frauen wenig Rechte und Möglichkeiten hatten. Den Frauen und deren Entscheidungen ausgeliefert hatten sie den Platz einzunehmen, der ihnen zugewiesen wurde. Dies war vor allem in den unteren Klassen der Fall, in welchen generell wenig Spiel- und Freiraum zur Lebensgestaltung herrschte.
«Selbst wenn eine Ohnmachtserfahrung der Vergangenheit angehört, wenn sie längst in Vergessenheit geraten ist, hinterlässt sie unauslöschliche Spuren.»
Auch wenn sich die Zeiten verändert haben, Frauen mehr Rechte bekamen, so sitzen die Spuren dessen, was war, doch tief. Ein neues Verhalten, eine neue Gewissheit für den eigenen Platz in der Gesellschaft ergibt sich nicht von heute auf Morgen. Zudem hat sich das Neue auch in den Köpfen anderer noch nicht vollkommen eingenistet, so dass Spuren vom Alten noch immer aktuell sind und damit auch erlebt werden. Erschwerend kommt hinzu, dass mit der fortschreitenden Zeit eine weitere Schwierigkeit auftaucht, ein neues Stigma, welches den Stand in der Gesellschaft erneut schwieriger macht: Das Alter. Mit diesem einher geht eine weitere Diskriminierung, die erneute Erfahrung, nicht mehr zum aktiven Teil der Gesellschaft gezählt zu werden und nach und nach, wenn die Gesundheit entsprechend ist, in Zwangssituationen zu geraten, die man selbst nicht möchte.
«Der Umzug ins Altenheim ist… der Eintritt in eine erzwungene Gemeinschaft, der man sich schwerlich entziehen kann.»
Wer sagte nicht in jungen Jahren, dass er nie in einem Altenheim leben möchte, weil man damit wenig Positives verbindet. Diese Sicht verfestigt sich und ist nicht einfach weg, wenn der Zeitpunkt kommt, dass man es in Erwägung ziehen muss – oder dazu genötigt wird, es in Erwägung zu ziehen. Dieser Umzug ist nicht einer von vielen, er gleicht einem aus der Freiheit des eigenen Seins und Tuns in ein geregeltes System mit Vorschriften und erzwungenen Nachbarschaften.
«Wenn alte Menschen keine Stimme haben. Oder nicht mehr haben oder sogar, im Fall Pflegebedürftiger, nicht mehr haben können – sind dann nicht andere angerufen, ihnen eine Stimme zu geben»?
Wir dürfen nicht wegschauen. Menschen sind Teil unserer Gemeinschaft. Immer. In jedem Alter, mit allen Fähigkeiten und Hindernissen. Oft vergessen wir die, welche sich nicht mehr wehren können. Wir lassen sie am Rand stehen. Vordergründig sind sie versorgt, doch was dieses «versorgt» wirklich bedeutet, blenden wir aus. Didier Eribon hat hingeschaut. Und er hat dieses Buch geschrieben. Er hält den Finger in die Wunde dieser Gesellschaft. Er gibt seiner Mutter eine Stimme, als diese keine mehr hat. Er gibt durch sie den Menschen eine Stimme, die keine haben. Damit wir sie hören. Und hinschauen.
Das Buch wurde von mir sehr erwartet und hatte damit wohl einen schweren Stand. Auch schwer war es, weil ich von den beiden vorher gelesenen Büchern «Rückkehr nach Reims» und «Gesellschaft als Urteil» mehr als begeistert war. Ich wurde, ich kann es gleich sagen, enttäuscht. Ob das nur der hohen Messlatte geschuldet war, kann ich nicht mit Sicherheit sagen, aber für mich war es sicher nicht Eribons bestes Buch. Trotzdem ist es absolut lesenswert und eine Empfehlung von mir.
»Das ist also ihr Leben gewesen, dachte ich: das ist ihr Leben gewesen und das ist ihr Alter, das Leben und das Alter einer Arbeiterin. Noch wusste ich nicht, dass ich in dieser Aufzählung bald ein drittes Wort würde hinzufügen müssen.« |211
Worüber schreibt Eribon in »Eine Arbeiterin«? Über seine Mutter, eine Arbeiterin, die in einem Waisenhaus aufwuchs, die in einer Fischfabrik putzte, die mit einem cholerischen Mann lebte, vier Jungen aufzog, sich spät noch einmal verliebte und schließlich von ihren Söhnen in ein bezahlbares Pflegeheim zum Sterben gebracht wurde? Über sich, den erfolgreichen Soziologen, den schwulen Intellektuellen im Zentrum Paris, der in seinem Denken in seiner neuen geistigen Familie ein Band zu seiner Herkunft knüpft, der dabei die Sprache seiner Klasse nicht mehr spricht? Über Widersprüche, Differenzen und Verbindungen einer Mutter und eines Sohnes, der aufhört jemandes Sohn zu sein, der sich seiner Herkunft bewußt ist, sich ihrer schämte und nun fremd geworden ist? Über einen Klassenflüchtigen, der sich ein Klassenbewusstsein der Zurückgelassenen wünscht und auf ein sich fügen, auf rassistische und Geschlechterstereotype trifft, gegen die er zu reden müde geworden ist? Über die Erinnerungen des eigenen Werdeganges, über die Gefühle, die das auslöst und die Neuverortung, die beim Sterben der Eltern im Raum steht?
Ja, diese Fragen sind Ausgangs- und Bezugspunkt für die "Autosoziographie" Eribons, die sich als Fortsetzung von »Rückkehr nach Reims« liest. Jedoch wäre »Eine Arbeiterin« kein französisches Buch, wenn es nicht danach streben würde, die sozialgesellschaftliche Dimension von Gefühlen und Beziehungen zu erkunden, im Individuellen das Verallgemeinerbare zu suchen und so einer Psychologisierung und einer um sich selbst kreisenden Autobiographie zu entgehen. Die Institutionalisierung der Pflege der Alten, die Rationalisierung und Durchkapitalisierung, thematisiert Eribon genauso wie Fragen der Entfremdung und Fremdbestimmung des Lebens einer Arbeiterin im Verlauf. Wie sie sich sieht und verhält steht im Bezug zu gesellschaftlichen Stimmungen, Klasse und Geschlecht, die einmal dazu führten, sich gewerkschaftlich zu engagieren und Fragen zu stellen. Doch meist begegnet dem Klassenaufsteiger Eribon in seiner Mutter Fügung, Rückzug, Fernsehen, Supermarktromane, Schweigen, die Zustimmung von Populismus, der die Entfremdung und das Französischsein über alles stellt und Rassismus, der ihr die Möglichkeit gibt, sich zu empören und zu fordern. Das Verhältnis zum Sterben und zu den Sterbenden, die Frage wer die Stimme und ein Bewusstsein für ihre Belange beanspruchen kann, wenn sie es selbst nicht mehr können, wirft Eribon ebenso auf wie die Ambivalenz, dass die Betroffenen der Herkunftsklasse die von Eribon für wesentlich erachteten Analysen und Schriften von Simone de Beauvoir etwa, von Michel Foucault, von Norbert Elias, Bohumil Hrabal, Danilo Kiš, Annie Ernaux, Pierre Bourdieu und einigen anderen Intellektuellen nicht lesen werden, erst Recht nicht im Alter.
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Eribon traut sich mit »Eine Arbeiterin« die Verfertigung unfertiger Gedanken und diese mit Theorie und Analyse zu vermengen. Er macht sich damit angreifbar, aber es sich und den Lesenden keineswegs einfach. Es sind die Fragen, die wertvoll sind und die Richtungen der Suche nach Antworten, denn feste Aussagen liefert er nicht, auch das macht »Eine Arbeiterin« lesenswert.
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